carosch_ Geschrieben 21. April 2017 Teilen Geschrieben 21. April 2017 vor 31 Minuten schrieb tonga: Ich kann beim besten Willen nicht nachvollziehen, warum man sich wochenlang bedeckt hält. Dass es dann - sollte es denn wirklich zu einem Übergriff gekommen sein - keine Beweise mehr gibt und der Täter mit solch einer Tat durchkommt, ist in meinen Augen die Schuld des Opfers. Bitte nicht falsch verstehen. Sexuelle Übergriffe sind grauenhaft und jemand, der solchen Szenarien ausgesetzt ist, trifft nicht sicher die Schuld am eigentlichen Verbrechen. Wenn dann im Nachgang aber nichts unternommen wird und der Täter davon kommt, weil jemand Angst hat oder sich schämt, trägt das Opfer zumindest hierfür die Verantwortung - nicht das Rechtssystem. Bei sexuellen Übergriffen wird ein Kontrollverlust über den eigenen Körper und gegen den eigenen Willen erlebt. Ohnmacht, Hilflosigkeit und die Tatsache, dass man der Willkür eines anderen Menschen ausgesetzt ist, dies führt meist schon während der Tat zur Dissoziation und vielen weiteren Schutzmechanismen, sowohl während als auch nach der Tat. Das Eintreten eines Schockzustand, sowie verschiedene psychische Symptome und Störungen (z.B. mögliche posttraumatische Belastungsstörungen) führen zu Verhaltensweisen die für uns Außenstehende nicht nachvollziehbar sein müssen. Stress im allgemeinen führen zu den unterschiedlichsten Reaktionen, abhängig von der Intensität und der eigenen Fähigkeit den einwirkenden Stress zu verarbeiten und damit umzugehen. Hinzukommt, dass betroffene Personen sich meist selbst die Schuld an den Geschehnissen geben und dadurch Scham beziehungsweise auch Angst entwickeln. Die erste Kurzschlussreaktion nach einer Vergewaltigung ist eben, dass sich die Betroffene waschen - eine Reinigung, die sowohl psychische als auch körperliche Gründe haben kann. Die Stunden und Tage danach sobald der Schockzustand vorüber ist, beschäftigen sich die Betroffenen je nach Persönlichkeit und Erlebnis entweder sehr intensiv mit den Geschehnissen oder man versucht diese zu verdrängen und beide Szenarien führen wiederum zu für uns zum Teil nicht nachvollziehbare Handlungen. Es gibt Personen die gehen sofort zur Polizei oder versuchen irgendwie anders Hilfe zu bekommen, andere schweigen ihr Leben lang über so etwas. Eine Ausnahmesituation in der man vielleicht auch vermittelt bekommt, dass es ums Überleben geht (z.B. wenn man zusätzlich auch mit einer Waffe bedroht wird) führt zu nicht rationalen Entscheidungen. Die Schuld einem Opfer zu geben, weil dieses sich nicht oder spät meldet ist meiner Meinung nach nicht tragbar. vor einer Stunde schrieb tonga: Sich selbst und ein Kind kann man, reduziert auf das Nötigste, immer über Wasser halten. Der Staat ist ja schließlich auch noch da.Das ein oder andere Extrem gibt es bestimmt, das sind aber Einzelfälle. Morddrohungen sind natürlich eine Sache für sich, aber auch hier lässt sich was machen. Der Mann bewacht einen nicht 24/7 und die Polizei nimmt solche Sachen, zumindest dort wo ich wohne und es beurteilen kann, sehr ernst. Ob nun Vergewaltigung, häusliche Gewalt, etc., wenn Frau X trotzdem bei Mann Y bleibt, sehe ich hier allem voran Gemütlichkeit im Vordergrund. Zu faul sich über seine Möglichkeiten zu informieren? Zu faul um von heute auf morgen einiges (materielles) aufzugeben und von Null anzufangen? Oder, oder, oder, die Liste mit Gründen ist lange, aber i. d. R. nicht plausibel bzw. für Dritte nachvollziehbar. Mir wurde zumindest noch kein plausibler Grund genannt, um meine Einstellung hierüber zu ändern. Natürlich gibt es Fälle in denen "Faulheit" oder "Gemütlichkeit" Gründe sein können, aber dass generell Gemütlichkeit im Vordergrund stehen soll , sehe ich als impertinente Äußerung, gegenüber den Millionen an Menschen die betroffen sind, an. Wie auch bei sexuellen Übergriffen spielt bei jeder Art von Gewalt, die einem angetan wird, die Psyche und der Umgang mit dem ausgesetzten Stress die wesentliche Rolle beim Verhalten von Menschen. Ob und wie Personen auf solche Erlebnisse reagieren hängt wiederum von der Persönlichkeit ab. Wie auch bei sexuellen Übergriffen kann es zu Schockzuständen kommen oder psychischen Störungen, die eben dazu führen, dass man bei einem solchen Menschen bleibt. Menschen, die sich im Ausnahmezustand befinden suchen zuerst die Schuld bei sich, und werden "fündig". Ich bin schuld, weil ... (ich habe mein Gegenüber verärgert, ich habe nicht das gemacht was derjenige wollte, ich habe falsch gehandelt und wurde bestraft) und man würde mir ja nicht grundlos wehtun. Solche Gedankengänge sind nicht unüblich, vor allem wenn es eine Assoziation mit emotionaler Abhängigkeit gibt. Wenn man sich lange genug etwas einredet, wird dies zur Wahrheit. Das sind Gründe warum Menschen bei jemanden bleiben der ihnen schadet. Dann gibt es Gründe, die durch sukzessive Handlungen von seiten des Täters ausgehen. Eine Beleidigung alle paar Monate, dann alle paar Wochen, etc oder die regelmäßige Aussetzung von verbalen Attacken, die zu einem Selbstbewusstseinsverlust, Ausbildung eines Minderwertigkeitskomplex und weiteren psychischen Verhaltensänderungen führt, die eben auch zu solchen Verhaltensmuster der Opfer führt. Wenn zum Beispiel der Lebenswille gebrochen ist, wird nicht rational gedacht und entschieden. Betroffene erleben meist keine akuten Bedrohungen durch den Täter, es kommt schleichend. Häufigere und heftigere Attacken, dies führt zu einer Art Abstumpfung, man lebt damit auch wenn es schon über die Grenzen eines "normalen" Streits hinausgeht. Es gibt natürlich viele weitere Gründe, aber im Vordergrund stehen eben psychische Gründe. Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
carosch_ Geschrieben 21. April 2017 Teilen Geschrieben 21. April 2017 (bearbeitet) vor 1 Stunde schrieb tonga: @carosch_ Vielen Dank für diesen informativen Post. Ich kann nur aus rechtlich Sicht sprechen. Täter, Opfer oder Zeugen müssen ein Vergehen zur Anzeige bringen. Dass Täter sich selbst eines Vergehens anzeigen ist eher die Ausnahme, Zeugen gibt es oftmals leider nicht, so bleibt nur das Opfer. Wenn sich das Opfer nun dagegen entscheidet etwas zu unternehmen, passiert auch nichts. Das ist nun mal so und obliegt allein der Verantwortung des Opfers. Klingt hart und nach deiner Argumentation kann ich wirklich nachvollziehen, weshalb nichts unternommen wird. Ebenso kann ich nachvollziehen, dass dir meine Aussage unverschämt vorkommt (der technische Fortschritt wird auch die Gerichtsmedizin weiterentwickeln und das Rechtssystem wird sicherlich auch noch das ein oder andere dazu lernen, um das künftig evtl. anders handhaben zu können), rechtlich/objektiv ist das aber derzeit einfach Stand der Dinge. Wie das Recht bei euch in Deutschland aussieht, kann ich nicht sagen. In Österreich: Opfer (Privatperson) hat ein Anzeigerecht, keine Anzeigepflicht. Spoiler Zitat III.5 Die Anzeige III.5.1 Anzeigepflicht - Anzeigerecht Die Staatsanwaltschaft muss jede strafbare Handlung, von der sie erfährt und die als Offizialdelikt ausgestaltet ist, von Amts wegen verfolgen und zu ihrer Untersuchung und Bestrafung durch das Gericht die erforderlichen Schritte veranlassen. Alle Behörden und Ämter (Sicherheitsbehörden, Jugendamt, LeiterIn einer Schule etc.) sind grundsätzlich verpflichtet, strafbare Handlungen, die ihnen bekannt geworden sind, sofort der Staatsanwaltschaft anzuzeigen. Die Anzeigepflicht für Behörden und öffentliche Dienststellen ist jedoch eingeschränkt. Gemäß § 78 Abs 2 Z 1 StPO haben sie u.a. dann keine Anzeigepflicht, wenn die Anzeige eine amtliche Tätigkeit beeinträchtigen würde, deren Wirksamkeit eines persönlichen Vertrauensverhältnisses bedarf. Dabei geht es nicht bloß um die Wahrung schon bestehender Vertrauensverhältnisse, sondern auch um die glaubwürdige Zusicherung der Vertraulichkeit gegenüber hilfsbedürftigen Personen für die Zukunft, um diesen Personenkreis zur Inanspruchnahme von Rat und Hilfe zu ermutigen. Das gilt beispielsweise für MitarbeiterInnen von Jugendämtern, Sozial-, Familien- und Suchtgiftberatungsstellen sowie für BewährungshelferInnen, LehrerInnen oder Kinder- und JugendanwältInnen. Privatrechtliche Vereine (wie etwa unsere Beratungsstelle oder die Gewaltschutzzentren/Interventionsstelle) haben prinzipiell keine Anzeigepflicht. Eine Privatperson ist zwar berechtigt, nicht aber verpflichtet, eine strafbare Handlung anzuzeigen. Entschließt sie sich jedoch dazu, so sind Sicherheitsbehörden, Gerichte und Staatsanwaltschaften zur Annahme der Anzeige verpflichtet. Auch anonymen Anzeigen ist grundsätzlich nachzugehen. Eine einmal erstattete Anzeige wegen eines Offizialdelikts kann von der anzeigenden Person nicht mehr zurückgezogen werden.13 Die Einstellung des Verfahrens kann nur von der Staatsanwaltschaft oder vom Gericht bewirkt werden, wenn sie keinen Grund für die Verfolgung des Angezeigten findet (siehe dazu näher Kapitel II.7.2). Quelle: https://www.frauennotruf-salzburg.at/fileadmin/pdf/endversion.pdf Niemand der von einem Verbrechen gegen die sexuelle Selbstbestimmung betroffen ist oder als Vertrauensperson davon erfährt, muss Anzeige erstatten. Nur Personen, die in Ausübung ihres Amtes unter der sogenannten "Garantenpflicht" stehen, wie z. B. PolizistInnen und StaatsanwältInnen, sind zur Verfolgung verpflichtet, wenn sie während ihrer beruflichen Tätigkeit von einem Verbrechen wie Vergewaltigung erfahren. Anders sieht das mit bevorstehenden Straftaten aus, deren Strafmaß ein Jahr übersteigt, und man durch eine Anzeige diese verhindern kann. Abgesehen davon kann dies als Mittäterschaft gewertet werden, natürlich abhängig von den Umständen. Rechtlich ist der Stand der Dinge, wenn es keine Anzeige gibt, kann nichts gemacht werden. Der Täter kommt ungeschoren davon - das ist nun mal eine Grauzone. Man kann von einem Opfer nicht verlangen Anzeige zu erstatten. Natürlich ist es wünschenswert und wäre auch notwendig. Auch durch die Anzeige selbst und womöglich den anschließenden Prozess können Leben zerstört werden, und diese Vorstellung ist für die Opfer selbst nicht tragbar - die Konsequenzen erscheinen schlimmer als das Stillschweigen. Man wird durch so etwas gebranntmarkt. Von der Öffentlichkeit, der Familie oder auch Freunden können die unterschiedlichsten Reaktionen erwartet werden und auch das ist Stress für das Opfer. Die Vermeidung von (weiterem) Stress ist in oder nach Ausnahmesituationen unabdingbar für den Organismus. Bearbeitet 21. April 2017 von carosch_ Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
carosch_ Geschrieben 21. April 2017 Teilen Geschrieben 21. April 2017 (bearbeitet) vor 2 Stunden schrieb tonga: Jetzt wird's aber kleinlich. Ich vervollständige meinen Satz für dich: "müssen Vergehen zur Anzeige bringen, wenn sie möchten, dass der Täter/die Täterin zur Rechenschaft gezogen wird." Ich nehme das Geschriebene so wahr, wie es da steht. Wenn man sich nicht so ausdrückt, wie man es (tatsächlich) meint (oder eben nicht in der Lage dazu ist), kann ich dafür nichts. vor 2 Stunden schrieb tonga: Wer sich dafür entscheidet zu schweigen, sollte rückwirkend auch nicht darüber meckern, dass der Täter/die Täterin für diese Tat nicht belangt wird. Nicht schön, ist aber die Konsequenz. Menschen in oder nach Ausnahmesituationen sind wie schon erwähnt, meist nicht fähig rational zu denken und zu entscheiden, bedingt durch die psychischen Verhaltensänderungen die stattfinden. Abgesehen davon sind Personen nach einem solchen Geschehnis eher mit sich selbst und mit der Bewältigung, von dem was ihnen angetan wurde, beschäftigt und nicht mit der Täterverfolgung - Überforderung mit der Situation und dem Übergehen in das "normale" Leben zurück tragen dazu bei. Wer durch eine Ausnahmesituation Tage, Wochen, Monate oder sogar Jahre nicht in der Lage ist Hilfe zu suchen oder zu beanspruchen und eben auch, wenn erwünscht von den Opfern, eine Anzeige zu erstatten, dem kann man nicht Hilfe abschlagen egal ob die Straftat bereits verjährt oder nicht mehr belangt werden kann (keine Beweise). Wann und wenn diese Personen ihre Erlebnisse teilen und vielleicht auch anzeigen ist ihnen selbst überlassen und darf nicht als Meckern angesehen werden. Der psychische "Normalzustand" kann sich erst nach Jahren einstellen, und natürlich wissen die Betroffenen selbst, dass es (vermutlich) zu spät ist um den Täter deswegen zu belangen (vorausgesetzt keine Beweise). Es gibt viele Gründe warum die Menschen schweigen, einige habe ich ja bereits erläutert. Wer sich nicht hineinversetzen kann in eine solche Ausnahmesituation und die Folgen und Veränderungen, die dadurch ausgelöst werden, nicht verstehen kann oder will, sollte nicht solche saloppen Aussagen von sich geben. Wer nicht selbst eine solche Ausnahmesituation erlebt hat, sollte auch nicht darüber urteilen wie die, die es erleben oder erlebt haben, darauf (zu) reagieren (haben). Bearbeitet 21. April 2017 von carosch_ Zitieren Link zu diesem Kommentar Auf anderen Seiten teilen More sharing options...
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